Überwältigung

Auf die Spitze und darüber hinaus getrieben

Wir waren platt. Die Aurora der letzten Nacht war überwältigend und der Morgen entsprechend verkatert obwohl kein Tropfen Alkohol im Spiel war. Frühstücken, zusammen räumen und los geht’s. Aber nicht mit unserem Benzinschluckspecht sondern fußbetrieben mal wieder Wandern. Wir sind ja erst gestern Abend im Skaftafell angekommen. Es steht noch die örtliche Besichtigung auf dem Reiseplan. Also geht es bergauf zum Haupt-Touri-Magnet in der Kategorie Wasserfall: dem Svartifoss.

 

Umrandet von schwarzen Basaltsäulen fällt im Spätsommer ein eher zartes Bächlein in einen von Touristen gesäumten Talkessel. Langes Warten ist für ambitionierte Fotografen angesagt, bis sich Absperrungen ignorierende selbst-ablichtende Schnepfen aus dem Bildbereich entfernt haben. In der Zwischenzeit verbringt man dann halt die Zeit damit, auch die hexagonalen Basaltsteine zu verewigen, die überall zwischen den Büschen herausragen. Für sich allein betrachtet ist der Svartifoss eine Perle, aber die (touristischen) Umstände verhinderten heute das Aufkommen eines erwarteten Island Momentes.

Dafür ist der Rückweg zum Campingplatz wegen der Ausweitung der Blicke plötzlich interessant. Der Skaftafell ist von mit dem Eis des Vatnajökull bedeckten und leider in den Wolken steckenden Gipfeln umsäumt. Unten ist die gewaltige Weite des Skeiðarásandur zu sehen, durch die die Skeiðará mäandert. In der Ferne führt die Ringstraße 1 über eine lange Brücke. Ebenso entdeckten wir hier auch den ersten gelb leuchtenden Herbstboten neben recht kräftig immergrünen Tannen.

Wir verlassen Skaftafell auf der Ringstraße 1 in Richtung Osten und biegen nur wenige hundert Meter weiter auf einen breiten aber gnadenlos mit Schlaglöchern verseuchten Abstecher zum Svínafellsjölull ein. Vor Ort dringen wir auf einem immer schlechter werdendem Pfad ins Gletschertal vor. Der Weg wird immer steiler und unbefestigter. Wir kehren um. Jedenfalls haben wir die erste isländische Gletscherlagune der Reise zu Gesicht bekommen. Im beige-milchigen Wasser schwimmen verschmutzte Eisbrocken. „So what?“ empfinden wir und gehen mit einem „iss so“ Eindruck von dannen.

Wir fahren weiter und kehren bei einer der nächsten Tankstellen im angeschlossenen Burger-Restaurant ein. Die Ham-Burger stellen sich – entgegen unserer Erwartung – als sehr liebevoll gemacht und super lecker heraus. Aus der ebenfalls vorhandenen Lebensmittelabteilung in der Tankstelle, nehmen wir aus Neugier zwei Becher Skyr mit, die erst mal im Camperkühlschrank verstaut werden.

Wegen der schon wieder einmal etwas zu sehr fortgeschrittenen Tageszeit verzichte ich auf die Besichtigung des angeblich als Noch-Geheimtipp gehandelten Fjallsárlón. Als sich die Anzahl der Parkplatzabzweigungen entlang der Ringstraße häufen, erspähen wir hinter den Sanddünen weiße Eisspitzen. Trotzdem fahre ich weiter und überquere schon fast in Trance, ob der schon erspähten Anblicke, die einspurige Brücke über die Jökulsá. Das erfordert unheimliche Konzentration, den jeder scheint von der Einmaligkeit der sich hier öffnenden Landschaft in Bann gezogen zu sein. Wir parken auf dem Hauptparkplatz mit direktem Blick auf einen Eisberg. Wir stürzen aus dem Auto. Keine Fotoausrüstung, nichts nehmen wir mit. Ich denke zum Glück noch daran unsere „Ramme“ abzuschließen und stolpere am See entlang. Es ist surreal, es ist einmalig, es ist grandios. Ich habe nicht mit der emotionalen Wirkung dieses Ortes gerechnet und es treibt mir Tränen in die Augen. Aus diesem Grund zum ersten mal in meinem Leben.

Nur langsam legt sich dieses überwältigende Gefühl und ich beginne wieder die Menschen um mich wahrzunehmen und bemerke, dass die meisten am fotografieren sind. Also die Ausrüstung aus dem Auto holen und versuchen die Magie es Ortes einzufangen. Die Formen-Vielfalt des Eises ist verwirrend. Die Phantasie malt Eiszebras und Eisschwäne auf die Lagune. Langzeitbelichtungen, welche die Reflexionen auf dem Wasser besser sichtbar machen, sind schwierig, weil alles durch Wind und Strömungen in Bewegung ist und dauernd neue Szenerien generiert.

Durch den kürzesten Fluss Islands fließt das Wasser wegen der Flut in die Lagune und drückt das bereits davon getriebene Eis zurück gegen die viel größeren Eisblöcke. Die Strömung erzeugt eine Rotation und die lange Belichtung durch einen Graufilter macht die Dynamik des Eismahlwerks sichtbar.

Es ist ein faszinierender Anblick, man kommst aus dem Staunen über die Surrealität der Landschaft nicht heraus und die Gefühlswallungen halten an. Die Zeit schreitet voran und somit nähert sich auch die Sonne dem Horizont.

Es reicht nicht alle möglichen Farbtöne zwischen weiß, blau, türkis und graugrün in der Lagune zu haben. Der Himmel möchte dringend komplementäre Farben liefern und die dünne Wolkenschicht bietet der hinter dem Gletscher untergehenden Sonne die passende Leinwand. Zunächst werden nur ein paar Wolkenunterseiten orange ausgeleuchtet. Doch dann erglüht der Himmel über der Lagune in allen Farben zwischen gelb und dunkel rot.

Die Farbenpracht reflektiert sich im Wasser zwischen dem Eis und bringt die transparenten Eisblöcke zum leuchten und meine Gefühle zum kochen. Nie zuvor in meinem Leben stand ich gleich mehrmals mit Glückstränen in den Augen in einer bewundernswerten Landschaft. Diese gigantischen Emotionen hat bisher kein anderes Reiseziel in mir auslösen können. Island ich verfalle dir.

Wir stehen andächtig an der Lagune und genießen das Naturschauspiel bis die Dunkelheit überhand nimmt. Eigentlich wollen wir früh ins Bett, denn das hoffentlich nächste Highlight könnte der Sonnenaufgang am schwarzen Atlantikstrand nahe der Mündung der Jökulsá sein.